Sir Lanzelot im zweiten Weltkrieg (2024)

"Er reitet und reitet ..."
"Wie schnell er ist!"
"Als werde er von einem Dämon getrieben!"
"Die prächtigen Muskeln seines Pferdes bewegen sich rhythmisch unter dem durchnässten Fell von selbigem!"
"Bei Gott, er ist in ungeheurer Eile!"
"Aber jetzt stoppt er das Pferd und sitzt für einen Moment da, gedankenverloren!"
"Jetzt wackelt er mit seinem großen Kopf in affiger Manier."
"Er reißt die Stute herum und gibt ihr die goldenen Sporen!"

Ja, es ist Lanzelot, aber er ist im falschen Film oder auf der falschen Bühne. Das kann passieren, wenn man eine unsterbliche Figur der Weltliteratur ist. Wir befinden uns im England des 2. Weltkrieges und die Ritter der Tafelrunde, allen voran König Artus und Ginevra, sind noch da und in der Verantwortung. Sie wissen von ihrem Premier Winston, dessen Vorstellungen von Kriegführung von den ihren abweichen, sie hören Ezra Pound und den englischen Propagandisten Hitlers, Lord Haw-Haw, im Radio. Auch ein polnischer Gewerkschaftsführer hat seinen kurzen Auftritt, obwohl mit ihm in dieser Zeit noch nicht zu rechnen ist. Doch er bewegt sich im gleichen Raum und dieser Raum ist der Kopf des Autors. Dort mischen sich nicht nur die alten Mythen mit Figuren der Geschichte und Gegenwart, sondern auch die alten Werte samt ihrer Verirrungen mit den Zumutungen der Medien, mit Boulevard und Propaganda.

"Gawain hat einer edlen Jungfrau den Kopf abgeschlagen. Aus Versehen. Schon wieder. "
"Gott im Himmel", sagte Artus. "Wer war sie?"
"Eine Tochter von König Zog. Ich glaube, ihr Name war Lynet."
"Dann wird Albanien unter Waffen stehen", sagte Artus. "all der Hass der Albaner auf die Italiener, umsonst. Gawain erwischt sie immer beim Abblitzen, die edlen Jungfrauen. Er führt einen Schlag, der Schlag prallt vom Brustharnisch des Gegners oder was auch immer zurück und trennt den Kopf der daneben stehende Dame ab. Es ist viel zu oft passiert. Lässt uns in der Presse nicht gut dastehen. Haw-Haw hat Bemerkungen darüber gemacht."

Im Ungang mit der Presse sind die edlen Ritter ganz gegenwärtig. Wie die heutigen Stars und Sternchen sind sie Bewunderung gewohnt und eitel genug. Sie geben Interviews, ärgern sich, wenn der Boulevard ihre Liebschaften durchhechelt und sorgen sich um ihre Nachrufe in den seriösen Zeitungen. Wie Barthelme die vielgestaltigen Motive der Artus-Sage und die Lebensverhältnisse des 20. Jahrhunderts mit der ihm eigenen Lakonie verwebt, das ist immer nachvollziehbar und absurd zugleich. Inwiefern und auf welche Weise der rote Ritter rot, der schwarze Ritter schwarz und der braune Ritter braun ist, sei hier nicht verraten. Zweimal das gleiche Muster wendet Barthelme jedenfalls nicht an und der Fehler, eine Idee über Gebühr zu strapazieren, ist einem so ökonomischen Autor ohnehin fremd. Die Komik, die sich aus dem Zusammenprall der Lebenswelten, aus der Gleichzeitigkeit in der Ungleichzeitigkeit ergibt, lässt er sich allerdings nicht entgehen. Sie allein wäre schon Grund genug, dieses schmale Buch zu mögen, doch sie charakterisiert es nicht hinreichend. So wie die Neuzeit die Nichtigkeiten des Ritterlebens beleuchtet, so enthüllt deren Kodex die Monstrosität der Neuzeit, und dieses Verfahren gibt dem Buch seine Brillanz und Schärfe. Spätestens, wenn die Suche nach dem Gral sich in der Formel der Atombombe erfüllt hat, möchte man sie zurückhaben, die Ritter der Tafelrunde.

Artus nahm die drei Zettel und riss sie in Fetzen.
"Wir werden es nicht tun", sagte er. "Ich kann es nicht gestatten. Das ist nicht die Art, wie wir Krieg führen."
"Wenn nicht wir", sagte Sir Kay, "dann jemand anderes. Da könnt Ihr sicher sein. Höchstwahrscheinlich der Feind."
"Das kann sein", sagte Artus. "Trotzdem, wir werden es nicht tun. Das Wesen unserer Berufung ist richtiges Verhalten, und dieser falsche Gral ist keine ritterliche Waffe. Ich habe gesprochen."
"Warum nur, Artus!", rief Lanzelot. "Das ist unfassbar! Etwas von dieser Größenordnung nicht tun? Ich glaube nicht, dass es in der Geschichte der Menschheit einen König gab, der etwas , von dieser Größenordnung nicht getan hat."
"Es ist eine Fähigkeit, an der ich lange gearbeitet habe", sagte Artus. "Ich nenne sie die negative Befähigung."
"Das stellt mein Vertrauen in das Soseinsollen vollkommen wieder her", sagte Lanzelot.

Donald Barthelme war in den sechziger und siebziger Jahren Bestandteil der Suhrkamp-Kultur. In den achtziger Jahren sind seine Bücher bei Klett-Cotta verlegt worden. Dieses, sein letztes, Buch erschien im Original 1990. Es hat 16 Jahre gedauert, und es musste einmal mehr der verdienstvolle Urs Engeler sein, der dieses Kleinod jetzt endlich zugänglich macht. Weitere Bücher von Barthelme sind auf Deutsch nicht lieferbar. Auch die Buchindustrie hat sich inzwischen eine negative Befähigung erworben. Sie ist entschieden unerfreulicher als die des König Artus.

Sir Lanzelot im zweiten Weltkrieg (2024)
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